Cover
Titel
Stalin. Passage to Revolution


Autor(en)
Suny, Ronald Grigor
Erschienen
Anzahl Seiten
857 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Walter Sperling, Deutsches Historisches Institut Moskau / Max Weber Stiftung Bonn

Biografien der Diktatoren sind erstaunlich beliebt. Obschon an ihnen kein Mangel herrscht, kommen immer wieder neue auf den Markt. „Hitler sells“, schreibt Ulrich Herbert in einer Rezension zur Hitler-Biografie Peter Longerichs, verwundert und verärgert zugleich: „Ist etwas passiert? Gibt es irgendetwas Neues zu Hitler?“1 Eine ähnliche Faszination an schrecklicher Größe geht auch von Josef Stalin aus. Selbst wer des Russischen nicht mächtig ist, kann sich zwischen mehreren Biografien entscheiden, die in den letzten Jahren erschienen sind: Da ist die übersichtliche Darstellung Helmut Altrichters, die kenntnisreiche Biografie Oleg Chlewnjuks oder das zweibändige Werk Stephen Kotkins, das Stalins Wirken bis 1941 verfolgt.2 Der dritte Band ist in Vorbereitung, wenn nicht im Druck. Weil Interesse besteht, werden selbst Klassiker neu verlegt, wie Dmitrij Wolkogonows Biografie Triumph und Tragödie aus der Perestroika-Zeit.3

Es gibt Stalin-Biografien, die gut recherchiert sind, angereichert mit bisher unbekanntem Quellenmaterial. Andere beschränken sich darauf, das Bekannte neu zu erzählen. Es gibt Darstellungen, die am Schreibtisch gelesen werden wollen, und solche, die Pageturner sind, wie die zwei Bände des Publizisten Simon Sebag Montefiore – dem Leser zur Unterhaltung, der Fachwelt ein Graus.4 Braucht die Welt noch einen Stalin-Wälzer, fragt man sich bei Ronald Sunys Buch – 857 Seiten dick, 1.471 Gramm schwer –, auch wenn es lediglich Stalins Genese als Berufsrevolutionär beschreibt, seine Passage to Revolution?

Ronald Sunys Buch ist insofern originell, als es in stärkerem Maße als die Biografien zuvor auf den Erkenntnissen der neuen Imperialgeschichte aufbaut. Wie keine andere Biografie erzählt sie die Revolutionskarriere des 1879 in der georgischen Kleinstadt Gori geborenen Stalin, Joseb (Soso) Dschugaschwili, aus dem imperialen Kontext des späten Zarenreiches heraus. Wie keine andere vermag sie, die Konflikte im Kaukasus und die grundsätzlichen kulturellen wie ökonomischen Spannungen des späten Zarenreiches mit der Genese der Revolution zu verknüpfen. Dem Autor gelingt es, die Ambitionen des zur Marginalität verdammten Schustersohnes mit der sozialen Frage, dem Klassenkampf und dem Aufstiegsdrang zu verbinden, die die Moderne im Russischen Imperium wie auch in der globalen Welt befeuert hat. Ronald Suny liefert kein Psychogramm eines Diktators. Vielmehr entwirft er eine Geschichte der Russischen Revolution, die maßgeblich von Randständigen bestimmt wurde, von Subalternen des Imperiums wie Josef Stalin.

Die Darstellung ist in sieben Teile gegliedert, die wiederum jeweils drei bis sechs übersichtliche Kapitel enthalten, 29 an der Zahl. Chronologisch folgen sie den einzelnen Lebensabschnitten, die durch stichwortartig zugespitzte Überschriften – „The Georgian“, „The Terrorist“, „The Rebel Disarmed“, „The Man of Steel“ – narrative Sinneinheiten ergeben. Der biografische Strang steht mal im Zentrum, mal dient er als Ausgangspunkt, um die Orte, die Konstellationen und die Diskussionen vorzustellen, die Stalin und mit ihm mehrere Generationen von Revolutionären prägten. Anders als etwa Stephen Kotkin lässt der Autor den biografischen Faden nie aus dem Blick. Die Darstellung folgt Stalin – von Gori nach Tiflis, von Tiflis nach Batumi, von Batumi nach Sibirien in die Verbannung und wieder zurück in den Kaukasus. Von der marxistischen Intelligenz in Georgien bevormundet, sucht Stalin seine Chance bei den Bolschewiken, die im Kaukasus eine Minderheit bildeten, die aber Radikaleres forderten. Stalin liest, Stalin schreibt, hält Reden, debattiert, organisiert. Er bewundert Lenin, der das Parteikommando von Genf aus führt, verteidigt seine harte Linie, auch wenn sie im Kaukasus auf Widerstand stößt.

Als Kenner der Revolutionsgeschichte geht Ronald Suny den Windungen der Parteikonflikte nach, rekapituliert die einschlägigen Texte, rekonstruiert die wichtigsten Debatten innerhalb Russlands Sozialdemokratie. Auch wenn die Chronik der Positionskämpfe bisweilen die Geduld des Lesers strapaziert, so überzeugt diese Vorgehensweise. Denn nur so lässt sich die Ideengeschichte des Marxismus im Zarenreich nachzeichnen, nur so die Kulturgeschichte des Revolutionsdiskurses rekonstruieren. Nur auf diese Weise lassen sich sozialhistorisch die Handlungsmöglichkeiten ausloten, die sich für die Bolschewiken wie die Menschewiken im Zarenreich ergaben. Schließlich war es der interne Schlagabtausch und die Abgrenzung zu den Liberalen, den Sozialrevolutionären, den Bundisten und Daschnaken, die den Alltag von Berufsrevolutionären wie Stalin bestimmten. Die Revolution war keine Wahlkampagne, sondern ein unerbittlicher Kampf gegen die Autokratie, die Bourgeoisie und die „Provokateure“, die Feinde im Inneren der Bewegung.

Ronald Suny beschränkt sich nicht darauf, Stalin als Revolutionspragmatiker zu präsentieren, der noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieg zum Vertrauensmann Lenins und des Zentralkomitees aufgestiegen war. Ebenso ist es ihm wichtig, Stalins Ideenwelt vorzustellen und die Entwicklungen herauszuarbeiten. So ergibt die Affäre des jungen Soso mit der georgischen Nationsromantik Sinn, so erscheint Stalins berühmteste Schrift, Marxismus und nationale Frage (1913), nicht von Lenin diktiert, wie Leo Trotzki es behauptet hatte, sondern, unter anderem, als vermittelt durch die eigene Erfahrung im multiethnischen Tiflis und Baku. Als Nationalismushistoriker bettet Ronald Suny zudem Stalins Schrift ein in die Vorkriegsdebatten um die Vereinigten Staaten von Europa, die nach Meinung vieler linker ebenso wie liberaler Intellektueller an die Stelle der multiethnischen Imperien Mitteleuropas treten sollte. Wie viele andere suchte auch Stalin nach einer Antwort auf die „nationale Frage“.

Befremdlich wirkt indessen Ronald Sunys Versuch, die Person Stalins auf seine theoretischen und parteipolitischen Positionierungen zu beziehen. Wenn einige Historiker auf das Konzept der „multiplen Identitäten“ zurückgreifen, um Widersprüchliches und Ungleichzeitiges in Einklang zu bringen, zeigt sich der Historiograf von seinem (Anti-)Helden enttäuscht. Statt die Komplexität des Man of the Borderlands5 offenzulegen, bemüht er die scheinbare Eindeutigkeit der Emotion: „Like Lenin, Stalin did not have any romantic or affective attachement to the nation.“ (S. 528) Ja und nein, schließlich bevorzugte der Diktator bis zu seinem Tod georgischen Wein, den er auch seinem Machtzirkel einflößte. Statt der Enttäuschung Ronald Sunys zu folgen, dass Stalins Bekenntnis zum Internationalismus fadenscheinig gewesen sei, dass er kaum mehr als eine „imperiale Vision“ (ebd.) entwickelt habe und keinen aus heutiger Sicht progressiven Gesellschaftsentwurf, möchte man in die Anfangskapitel des Buches zurückblättern. Dort würde man noch einmal nachlesen, dass Stalin wie viele andere in eine eurozentrische Welt hineingeboren war und dass er wie viele andere die Hegemonie der Metropole als eine Selbstverständlichkeit, wenn nicht als Voraussetzung des Fortschritts und der Dialektik der Geschichte betrachtete.

Stalin war kein Träumer, sondern ein Macher, weshalb er den zentralistischen multinationalen Staat einer föderalen Lösung vorzog. Auch war er dünnhäutig, weshalb er später jeden Einspruch aus den Nationalrepubliken als „bourgeoisen Nationalismus“ bloßstellte. Dann war Stalin noch nachtragend und heimtückisch. Aufgewachsen in einem kulturellen Milieu, in dem die Rache der Gewalt als legitim galt, geprägt durch den jahrzehntelangen Kampf für die Sache der Revolution und die eigene Rolle darin, ließ Stalin den als national interpretierten Eigensinn abstrafen – mit Terror und Deportation.

Ronald Sunys Biografie hat Längen. Doch davon abgesehen ist es dem Autor gelungen, ein vielschichtiges Bild von Stalin als Person und Politiker zu zeichnen. Auch Sunys Stalin ist abschreckend, doch er hat menschliche Züge. Damit macht der Autor es uns leicht, nicht nur Stalin und seine Zeit zu verstehen, sondern ebenso uns in Stalins Schrecklichkeit wiederzuerkennen. Überraschend ist dieser Anblick nicht, doch lehrreich ist er allemal.

Anmerkungen:
1 Ulrich Herbert, Adolf Hitler. Der alte neue Diktator, in: Die Zeit, 10.12.2015, Nr. 50/2015.
2 Helmut Altrichter, Stalin. Der Herr des Terrors. Eine Biografie, München 2018; Oleg V. Khlevniuk, Stalin. New Biography of a Dictator, New Haven 2015; Stephen Kotkin, Stalin. Bisher erschienen: Vol. I: Paradoxes of Power, 1878–1928, New York 2014; Vol. II: Waiting for Hitler, 1928–1941, New York 2017.
3 Dimitri Wolkogonow, Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Aus dem Russischen von Vesna Jovanoska, Düsseldorf 1989; 2015 neu aufgelegt im Verlag „edition berolina“.
4 Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des roten Zaren. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt am Main 2005; ders., Der junge Stalin, aus dem Englischen von Bernd Rullkötter, Frankfurt am Main 2008.
5 Alfred J. Rieber, Stalin. Man of the Borderlands, in: The American Historical Review 106 (2001), S. 1651–1691.

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